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Symbolik von Geschlecht und Schwangerschaft in der Steinzeit
In diesem Kapitel werden Schwangerheitsdarstellungen in der Steinzeit als mögliche Schutzamulette diskutiert. Zudem wird der Begriff 'Matriarchat' kritisch hinterfragt und die Komplexität historischer Geschlechterrollen beleuchtet.
Dass Frauen in der Steinzeit nicht in einer Kinderschar ums Feuer saßen und auf den Familienernährer warteten, ist inzwischen weitgehend bekannt. Doch wie lebten Frauen dann? Welche Beweise gibt es, welche Thesen, welche Schwierigkeiten? Von Silke Wolfrum
Credits
Autorin dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christoph Jablonka, Julia Fischer
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Brigitte Röder (Fachbereich Ur- und Frühgeschichtliche und Provinzialrömische Archäologie Uni Basel),
Claudine Cohen, Directrice d'études de l'EHESS (renommierte Uni für Sozialwissenschaften), Philosophin und Wissenschaftshistorikerin
Literatur:
Claudine Cohen, „Femmes de la Préhistoire “: Eine umfassende Darstellung der Bedeutung der Frau v.a. in der Altsteinzeit, leider nicht auf Deutsch erhältlich
Brigitte Röder (Hrsg.), „Ich Mann, du Frau. Feste Rollen seit Urzeiten?“, mit einem Vorwort von Brigitte Röder und zahlreichen konkreten Fallbeispielen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZUSPIELUNG 01 a: Brigitte Röder
Einer der größten Irrtümer ist, dass man von den Frauen in der Steinzeit spricht. Denn genauso wie heute die Lebensverhältnisse von Frauen sehr, sehr verschieden sein können, war das auch in der Vergangenheit der Fall.
SPRECHER:
Sagt Brigitte Röder, Professorin für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie an der Uni Basel.
ZUSPIELUNG 01 b: Brigitte Röder
Und das andere ist, dass man sich klarmachen muss, dass die Steinzeit 2,8 Millionen Jahre umfasst. Also das ist ein ungeheuer langer Zeitraum, in dem sehr viele Veränderungen stattgefunden haben. Und von daher muss man schon davon ausgehen, dass sich auch die Lebensverhältnisse für die Geschlechter in diesem langen Zeitraum verändert haben.
MUSIK: „The mist“ (0:43)
SPRECHER:
Aussagen über Geschlechterrollen in der Steinzeit zu treffen ist nicht leicht. Nicht nur aufgrund des immensen Zeitraums, auch weil es sich um eine Zeit vor der Schrift handelt, ihre Überreste also ausschließlich aus Knochen, Steinen, Siedlungsresten, aus Kunstobjekten, evtl. auch aus Stoff- oder Nahrungsresten bestehen. Ein nicht minder großes Problem stellt zudem der häufig subjektiv gefärbte Blick dar, mit dem die Steinzeit betrachtet wird, so die Philosophin und Wissenschaftshistorikerin Claudine Cohen (gespr: Clodin Co-en, Betonung immer auf 2. Silbe) von der l'EHESS (gespr.: eu-hacheu-èssèss), einer Universität für Sozialwissenschaften in Paris.
ZUSPIELUNG 02: Claudine Cohen - OVERVOICE
Il se trouve bien que... les cadres bourgeois de nos sociétés
Man hat sich in der Geschichte lange Zeit nicht wirklich mit Frauen beschäftigen wollen, man hat sehr lange die Rolle der Frauen praktisch ausgelassen, unsichtbar gemacht. Es gab schon eine Reihe von Darstellungen, aber es waren extrem, sagen wir mal, banale Darstellungen, die die Konzepte der Gesellschaft des 19. oder 20. Jahrhunderts aufgriffen, um sie auf diese sehr, sehr weit entfernte Vergangenheit zu projizierten, die natürlich nichts mit den bürgerlichen Konzepten unserer Gesellschaften zu tun hat.
SPRECHER:
So wurde und wird z.T. immer noch in populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur wie in wissenschaftlichen Abhandlungen behauptet, Männer hätten in der Steinzeit die Rolle des Ernährers eingenommen, Frauen die der Kinderbetreuung und des Haushalts. Von dieser vermeintlich ursprünglichen und natürlichen Rollenaufteilung wird gern auf entsprechende angeblich geschlechtsspezifische Charakterzüge von Frauen und Männern geschlussfolgert. Hier der mutige Mann, der sich bestens orientieren kann, dort die fürsorgliche und eher vorsichtige Frau mit den besseren Kommunikationsfähigkeiten. Und so dient DIE Steinzeit, die es ja so - wie gerade gehört - gar nicht gibt, zur Projektionsfläche für Geschlechterfragen unserer Zeit, in der reichlich Verunsicherung herrscht. Stichwort Me too, Gendersternchen und „Krise der Männlichkeit“.
ZUSPIELUNG 03: Brigitte Röder
In solchen Situationen kommt es eigentlich regelmäßig vor, dass man nach Orientierung in der Vergangenheit sucht und dann häufig in der Urgeschichte landet, weil die Urgeschichte bei uns als eine Art Ur- und Naturzustand gilt, also als ob man quasi da noch mal auf das eigentliche Wesen des Menschen von Frauen und Männern gucken könnte, ohne die ganzen zivilisatorischen Prozesse, die dieses Wesen vielleicht verändert haben. Also man merkt schon dahinter steht ein essentialistisches Menschenbild, also die Vorstellung, dass es so etwas wie das Wesen des Menschen oder das Wesen der Frau, des Mannes gäbe. Dass man dieses Wesen dann in der Urgeschichte sucht und dann meint, man könne von dort quasi eine Antwort erhalten, wie Frauen und Männer eigentlich von Natur aus seit Urzeiten sind.
SPRECHER:
Neuere Ansätze gehen einen anderen Weg, stellen andere Fragen und können auf eine Vielfalt auch neuer wissenschaftlicher Methoden zurückgreifen. Wer heute seriös über die Rolle der Frau in der Vorgeschichte forscht, ist interdisziplinär, bedient sich der Paläontologie, die sich mit Fossilien befasst oder der Anthropologie, die Knochen untersucht, genauso wie der prähistorischen Archäologie, die sich mit behauenen Knochen oder Steinen beschäftigt oder der so genannten Trassologie, die Auskunft gibt über die Herstellung und Verwendung von Werkzeugen und den Spuren, die sie hinterlassen. Auch moderne DNA-Analysen bringen neue Erkenntnisse oder ethnografische Studien, die sich mit noch heute lebenden traditionellen Gesellschaften befassen und teilweise Rückschlüsse auf Bedingungen prähistorisches Lebens erlauben. Die Methoden ergänzen sich gegenseitig.
ZUSPIELUNG 04: Brigitte Röder
Da gibt es eine Untersuchung, die zeigt, dass es bei männlichen und weiblichen Skeletten aus der Altsteinzeit keine Unterschiede bei den Verletzungen gibt. Das heißt, dass man davon ausgehen muss, dass Männer und Frauen in der Altsteinzeit denselben Gefahren ausgesetzt waren, also haben sie offensichtlich ähnliche Tätigkeiten ausgeübt. Also das wäre jetzt ein indirekter Hinweis darauf, dass Frauen auch gejagt haben. Dann kann man sich mit ethnografisch überlieferten Gesellschaften beschäftigen. Eine Kollegin aus der Archäologie, Linda Owen, eine andere Kollegin, die aus der Ethnologie und der Archäologie kommen, Sibylle Kästner, haben beide dazu gearbeitet und haben aus der ethnografischen Literatur Beispiele zusammengestellt von Gesellschaften, in denen Frauen jagen, teilweise alleine, teilweise sogar mit Baby auf dem Rücken auf die Jagd gehen, teilweise in Treibjagden und in Gruppenjagden involviert sind.
MUSIK: „Someone love us“ (0:41)
SPRECHER:
Bei den Inuit sind es v.a. Männer, die Eisbären, Karibus oder Wale jagen. Doch gibt es zu wenig männliche Nachkommen, fällt den Frauen diese Aufgabe zu. Die Arbeitsteilung ist unter gewissen Bedingungen also flexibel.
Generell spielte die Großwild-Jagd in der Urgeschichte wohl nicht die entscheidende Rolle, die ihr oft zugeschrieben wurde. Ein Großteil der Nahrung setzte sich aus Kleinwild wie z.B. Hasen und pflanzlicher Nahrung zusammen. Frauen leisteten einen großen Anteil bei der Nahrungsbeschaffung, so Claudine Cohen:
ZUSPIELUNG 05: Claudine Cohen OVERVOICE
Pendant longtemps, on a cru … et même qu'elles chassaient.
Lange Zeit glaubte man, dass Frauen zu Hause blieben, nichts taten, darauf warteten, dass man ihnen etwas zu essen brachte, und sich um eine reiche Nachkommenschaft kümmerten. Da denkt man heute wirklich ganz anders. Man glaubt, dass sie extrem mobil waren, dass sie nach draußen gingen, entweder Pflanzen sammelten, Wild sammelten, Eier und Muscheln sammelten und sogar jagten.
MUSIK: „Fun is over“ (0:36)
SPRECHER:
Frauen schafften nicht nur Nahrung ran, sie spielten auch eine Rolle im Bereich der Kunst. Untersuchungen des amerikanischen Archäologen Dean Snow ergaben, dass Handnegative, die auf verschiedenen Höhlenmalereien neben den Tierzeichnungen zu sehen sind, zu Dreivierteln von Frauen stammen. Frauen legten also ihre Hand auf die Felswand, dann wurden mit einem Röhrchen Farbpigmente darauf geblasen und der Handumriss blieb erhalten.
ZUSPIELUNG 07 Claudine Cohen OVERVOICE
Alors effectivement, pendant longtemps… qu'on voit et qu'on admire sur les parois des grottes.
Als man die Kunst des Paläolithikums, die Kunst der Höhlenmalereien fand, dachte man sofort, dass es sich um die Kunst von Jägern handelte, die ihren Wunsch nach der Fortpflanzung des Wildes zum Ausdruck brachten, Jagdgeschichten erzählten usw., ohne sich auch nur vorzustellen, dass Frauen daran beteiligt gewesen sein könnten. Heute geht man davon aus, dass Frauen in den bemalten Höhlen waren, dass sie an dem teilnahmen, was dort stattfand, wahrscheinlich an Zeremonien, und dass sie vielleicht auch an der Herstellung dieser Malereien beteiligt waren, die man an den Höhlenwänden sieht und bewundert.
MUSIK: „Someone love us“ (1:09)
SPRECHER
Frauen waren ebenso auch häufig selbst Gegenstand von Kunst. Aus der Alt- und Jungsteinzeit sind zahlreiche figürliche Darstellungen von Frauen erhalten. Erstaunlich ist ihre Ähnlichkeit untereinander. Die Körperformen sind stets stark überzeichnet, sie haben oft riesige Brüste, eine gut sichtbare Vulva, einen prallen Bauch, Kopf, Arme und Beine sind dagegen stark reduziert oder ganz weggelassen. Solche Frauendarstellungen fand man an der Atlantikküste genauso wie in Sibirien. Zu ihren berühmtesten Exemplaren zählen die 6cm große 40.000 Jahre alte so genannte Venus vom Hohlefels von der Schwäbischen Alb oder die 30.000 alte 11cm große Venus von Willendorf aus Österreich. Sie nach der römischen Liebesgöttin „Venus“ zu benennen, zeugt bereits von voreingenommenen Zuschreibungen. Lange sah man in den Figuren Fruchtbarkeit-Symbole.
ZUSPIELUNG 08 Claudine Cohen OVERVOICE
Alors, c'est vrai qu'il y a un certain nombre… aller plus loin dans l'interprétation
Es stimmt, dass es eine Reihe von Statuetten gibt, die schwanger sind und die Schwangerschaft darstellen. Sie sind sehr klein und waren vielleicht Amulette. Amulette weniger, um Fruchtbarkeit hervorzurufen, als vielmehr, um die Schwangerschaft und die Geburt zu schützen. Dies ist eine Interpretation, die heute vorherrschend ist. Was sie auf jeden Fall aussagen, ist, dass es eine Symbolik gab, die mit der Frau und dem Körper der Frau zusammenhing. Weiter kann man eigentlich nicht gehen.
SPRECHER:
Was diese Figuren auf alle Fälle nicht sind: Belege für die Existenz eines Matriarchats, wie es einige Feministinnen v.a. ab den 70er-Jahren behaupteten. Die in Kalifornien lebende Anthropologin Marija Gimbutas sah in den üppigen Statuetten einen Beleg für einen Fruchtbarkeits-Kult um die „Große Mutter“, der von der jüngeren Altsteinzeit bis zur Bronzezeit in ganz Europa geherrscht haben soll. Es gibt dafür jedoch keinerlei Beweise. Überhaupt ist schon allein die Begrifflichkeit des Matriarchats problematisch, findet Brigitte Röder:
ZUSPIELUNG 09: Brigitte Röder
Matriarchat und Patriarchat sind Begriffe, die auch im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft entstanden sind, sind auch zutiefst essentialistisch von den damaligen Vorstellungen, vom Wesen von Männern und von Frauen geprägt. Auch von der Idee, dass ein Geschlecht in allen gesellschaftlichen Bereichen über das andere herrscht. Und da ist die Wissenschaft inzwischen doch auf einem ganz anderen Standpunkt, was jetzt die Rekonstruktion von Herrschaftsverhältnissen zwischen Geschlechtern in Gesellschaften anbelangt. Da geht man eher davon aus, dass es in Gesellschaften verschiedene Felder gibt, in denen Geschlechter mehr oder weniger zu sagen haben und dass diese Felder sich auch ständig verändern.
SPRECHER:
Es ist also anzunehmen, dass sowohl Machtstrukturen wie Rollen- und Familienkonzepte in der Steinzeit vielfältig waren, sich immer wieder veränderten und stark von äußeren Bedingungen abhingen. Ebenso scheint sich auch die Vorstellung von Geschlecht immer wieder verändert zu haben, wie man historisch gut nachweisen könne, so Brigitte Röder. Während wir nämlich heute mit einem Zwei-Geschlechter-Modell sozialisiert sind, in dem Männer und Frauen als grundsätzlich ganz verschiedene Wesen angesehen werden, gab es früher vermutlich auch völlig andere Vorstellungen. Das legen jedenfalls Funde von Menschen-Figuren oder Plastiken nahe.
ZUSPIELUNG 10 Brigitte Röder
Also es gibt eindeutig weibliche, eindeutig männliche Darstellungen und dann gibt es aber auch Darstellung, die nicht geschlechtlich für uns heute identifizierbar sind oder die auch mehrdeutig sind. Also beispielsweise kleine Plastiken, die man sowohl als Brüste als auch als ein Penis mit Hoden interpretieren kann. Da scheint mir, dass es eher ein Kontinuum war, wie man sich Geschlecht gedacht hat, vielleicht sogar, dass es so eine Art Wechselspiel zwischen männlichen und weiblichen Aspekten gab. Es wird auch dazu passen, dass man offenbar auch damals keinen kategorialen Unterschied zwischen Menschen und Tieren gemacht hat, sondern es gibt Mensch-Tier-Mischwesen, die in diese Richtung deuten könnten.
MUSIK: „Someone love us“ (0:41)
SPRECHER:
Die Altsteinzeit macht den größten Teil der Urgeschichte aus, man verortet ihren Beginn grob vor über 2,5 Millionen. Vor ca. 10.000 Jahren beginnt die Mittelsteinzeit, während der die Menschen noch überwiegend Jäger waren und vor etwa 7.500 Jahren die Jungsteinzeit mit einer geradezu revolutionären Veränderung der Lebensweise: mit der ersten Sesshaftwerdung, dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht, wobei auch das grobe Vereinfachungen sind, denn die Menschen wurden nicht überall gleichzeitig sesshaft.
Wenn überhaupt sind wir wohl eher die Erben des Neolithikums, also der Jungsteinzeit. In der so genannten Schnurkeramischen Kultur Ende der Jungsteinzeit finden sich z.B. Bestattungskulturen, denen vielleicht ein binäres Geschlechtermodell zugrunde liegt. Männer und Frauen werden hier unterschiedlich begraben, in anderen Posen, mit anderen Grabbeigaben.
Im Lechtal bei Augsburg fand man Gehöfte mit daran anschließenden Friedhöfen ebenfalls vom Übergang der Jungsteinzeit in die Bronzezeit. Hier konnte man ein sogenanntes patrilokales Heiratssystem nachweisen, d.h. der Wohnort des Mannes war ausschlaggebend für die angeheiratete Frau. Auch das ein uns vertrautes Muster.
ZUSPIELUNGEN 11 Brigitte Röder
Da konnte man jetzt dank sehr guter DNA-Erhaltung Verwandtschaft rekonstruieren und konnte sehen, dass das Gehöft immer in der männlichen Linie weitergegeben wurde. In Kombination mit so genannten Isotopenanalysen, über die man die Mobilität von Individuen rekonstruieren kann, konnte man auch sehen, dass die Frauen, die mit den lokalen Männern Nachwuchs gezeugt haben, von weit her kamen, also die Männer blieben immer vor Ort, die Frauen kamen von außen rein. Das wäre jetzt durchaus zum Beispiel eine Erwartung, die man aufgrund des bürgerlichen Geschlechter-Modells gehabt hat. Allerdings, was auch damit verbunden war, nämlich die Vorstellung, dass die Frauen einfach getauscht und verheiratet werden. Das ist wiederum ein kulturelles Konzept. Es kann ja auch sein, dass die Frauen aus eigener Freiheit raus in diese andere Gruppe gegangen sind, um dort zu leben. Das finden wir jetzt wiederum nicht raus mit archäologischen Quellen.
MUSIK
SPRECHER:
Es scheint sich also abzuzeichnen, dass sich mit der Sesshaftwerdung in der Jungsteinzeit einige Gepflogenheiten und Vorstellung gegenüber der Altsteinzeit wohl grundsätzlich geändert haben.
Denn einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass die nomadischen Gesellschaften der Altsteinzeit eher gleichberechtigt bzw. frei von festen Hierarchien waren. Tatsächlich finden sich kaum Spuren von physischer Gewalt an Frauenskeletten der Altsteinzeit, so Claudine Cohen. Sie denkt sogar, dass die Vorstellung von Macht, sei sie nun von Männern oder Frauen, zu dieser Zeit gar nicht existierte. Aber in manchen Bereichen hatten Frauen sicher trotzdem eine besondere Bedeutung, z.B. bei der Familienplanung. Für Nomaden sind viele Kinder von Nachteil, schließlich gibt es schon genug andere Dinge, die man mit sich herumschleppen muss.
ZUSPIELUNG 12 Claudine Cohen OVERVOICE
Ce qu'on sait des sociétés nomades … le rapprochement entre les hommes et les femmes
Wir wissen über nomadische Jäger- und Sammlergesellschaften, dass sie die Anzahl ihrer Kinder stark begrenzen. Das heißt, sie sorgen dafür, dass sie nur alle drei oder vier Jahre ein Kind bekommen, und zwar nicht nur durch Verhütungspraktiken, die den Gebrauch von abtreibenden oder empfängnisverhütenden Pflanzen beinhalten konnten, sondern auch, wenn es nötig war, und das war in diesen Gesellschaften bekanntlich der Fall, durch Kindstötung. . Und dann gibt es natürlich auch Normen, die von der Gruppe auferlegt werden, die von den Männern auferlegt werden, die die Annäherung zwischen Männern und Frauen einschränken können.
SPRECHER:
Als die Menschen in der Jungsteinzeit dann sesshaft werden und Ackerbau betreiben, ändert sich die Bedeutung von Kindern und damit auch die Rolle der Frau, so Claudine Cohen. Jetzt ist es von Vorteil möglichst viele Kinder zu haben, denn ihre Arbeitskraft wird gebraucht. Sie müssen auch helfen, das Eigentum zu verteidigen.
ZUSPIELUNG 13 Claudine Cohen OVERVOICE
Au moment du néolithique … plus fort qu'au paléolithique.
In der Jungsteinzeit, als die Menschen sesshaft wurden, als sich all diese Revolutionen in der Landwirtschaft, der Viehzucht usw. vollzogen, wurde die Lage der Frauen sehr viel schwieriger, weil sie im Haus eher isoliert waren. Sie sind an die Kinder gebunden, sie sind an die häusliche Pflege gebunden, und zu diesem Zeitpunkt entsteht tatsächlich eine soziale Ungleichheit und eine Unterjochung der Frauen, die sicherlich viel stärker ist als im Paläolithikum.
MUSIK: „Someone love us“ (0:41)
Ebenso wie Frauen vermutlich gegenüber Männern einen Wissensvorsprung rund um die Themen der Fortpflanzung und Geburt hatten, so könnte dies auch in Bezug auf Pflanzenkenntnisse der Fall gewesen sein. Claudine Cohen hält es für nicht unwahrscheinlich, dass Frauen mit der Sesshaftwerdung den Garten- wie Ackerbau erfunden haben. Denn dazu würde als Vorgeschichte passen: So wie es heute in vielen traditionellen Gesellschaften Aufgabe der Frauen ist, Früchte, Beeren und Kräuter zu sammeln, so könnte das auch in der Altsteinzeit schon der Fall gewesen sein.
ZUSPIELUNG 14 Claudine Cohen OVERVOICE
Si elles étaient spécialistes des plantes… le relais de cette activité féminine
Wenn sie Pflanzenspezialistinnen waren, kannten sie sich auch bestens mit Fasern aus, was sie sicherlich zu den Ersten machte, die Seile, Körbe, Stoffe usw. herstellten. Aber sie haben sicher auch beobachtet, wie die Pflanzen wuchsen, wo die Samen am besten aufgingen, welche Böden am fruchtbarsten waren usw. Und so ist diese Erfindung der Landwirtschaft sicherlich etwas, das man den Frauen zuschreiben kann, auch wenn es nach der Erfindung sicherlich zu Veränderungen in der Rollenverteilung gekommen ist. Und wahrscheinlich, als die Feldarbeit schwerer wurde, als die Arbeitsgeräte schwerer und schwieriger zu bedienen waren, vielleicht gab es hier eine Umkehrung und vielleicht übernahmen dann die Männer diese weibliche Tätigkeit.
SPRECHER:
Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen das Aufkommen einer Hierarchisierung der Gesellschaft wie auch die Entstehung von Kriegen in engem Zusammenhang mit der Sesshaftwerdung des Menschen und dem Beginn des Eigentums. Gewalt, vielleicht sogar Formen von Krieg kann es allerdings schon vorher gegeben haben. Brigitte Röder mahnt hier zur Vorsicht:
ZUSPIELUNG 15 Brigitte Röder
Ich finde es schwierig zu sagen, die Altsteinzeit war egalitär, ab der Jungsteinzeit haben wir Hierarchien. Es gibt andere Konzepte, die sagen die Herrscher-Hierarchien entstehen mit den Metallen in der Bronze-Zeit, also da gibt es verschiedene Ansätze heute, die aber meines Erachtens alle nicht wissenschaftlich fundiert sind.
Wir können in der Archäologie immer nur über Fallstudien seriöse Aussagen machen. Und wenn man jetzt auf der Ebene von Fallstudien wäre, da könnte man dann einiges zusammentragen und sagen ja, in der Fallstudie kommt das raus, in der Fallstudie kommt jenes raus, und dann könnten wir zeigen, dass es eben nicht die Lebensverhältnisse in der Steinzeit gab, sondern dass man immer auf der Fall-Ebene argumentieren muss.
MUSIK: „Fun is over“ (0:42) -
SPRECHER:
Der Blick auf die Frauen in der Urgeschichte hat sich geändert, vieles ist noch ungewiss, vieles bleibt noch Hypothese, doch dank moderner Untersuchungsmethoden konnten auch schon zahlreiche Fehlinterpretationen geradegerückt und neue Erkenntnisse gewonnen werden, und das ist erst der Anfang. Eines ist für Brigitte Röder wie Claudine Cohen aber sicher: Die Menschen der Steinzeit haben viele Transformationen erlebt und folglich gab es eine Vielzahl von Formen des Zusammenlebens und eine Vielfalt von Geschlechterrollen.
ZUSPIELUNG 16 Claudine Cohen OVERVOICE
Jamais dans les sociétés humaines… doivent aussi changer
In den menschlichen Gesellschaften gab es nie ein naturgegebenes Geschlechter-Verhältnis. Es war immer eine Struktur, die von der Gruppe durch Verwandtschaftsregeln, durch Verhaltensregeln und durch die Hierarchie in diesen Gruppen erzeugt wurde. Es gibt kein Modell, an das wir uns in unseren Beziehungen zwischen Männern und Frauen halten sollten, sondern es handelt sich um variable Beziehungen.
MUSIK: „Fun is over“ (0:15)
SPRECHER
Geschlechterverhältnisse während der Steinzeit – ein Thema mit noch vielen offenen Thesen und Überlegungen. Es bleibt spannend.
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