
Der Tyrannenmord - Heldentat oder Verbrechen?
Radiowissen
Intro
In diesem Kapitel wird die entscheidende Zögerlichkeit von Julius Caesar beschrieben, als er am 15. März 44 v. Chr. zur Senatssitzung geht, beeinflusst durch ungünstige Vorzeichen und Träume seiner Frau. Sein Freund Decimus Brutus überredet ihn, was inmitten der politischen Intrigen der römischen Republik zu Caesars tragischem Schicksal führt.
Ein Despot unterdrückt sein Volk. Darf man ihn töten, um Unrecht zu beenden? Von Brutus bis Stauffenberg wirft der Tyrannenmord Fragen nach Moral, Recht und Verantwortung auf: Ist Widerstand Pflicht? Wann wird aus einem Attentäter ein Held? Von Linus Lüring
Credits
Autor dieser Folge: Linus Lüring
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Bürkle, Johannes Hitzelberger
Technik: Heiko Hinrichs
Redaktion: Katharina Hübel
Im Interview:
Sophie von Bechtolsheim, Historikerin und Enkelin von Claus Schenk Graf von Stauffenberg
Alexander Merkl, Professor für Theologische Ethik an der Universität Hildesheim
Christoph Safferling, Professor für Völkerrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg
Michael Sommer, Professor für Alte Geschichte an der Universität Oldenburg
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Hintergründe zur Person Georg Elser und seinem Attentat auf Adolf Hitler am 8.11.1939 HIER
Literatur:
Aquin, Thomas von (2008): Die Herrschaft der Fürsten. Stuttgart, Reclam.
Bechtolsheim, Sophie von (2019): Stauffenberg - mein Großvater war kein Attentäter. Freiburg: Herder.
Merkl, Alexander (2025): Der Tyrannenmord. Ist gewaltsamer Widerstand legitim? in: Stimmen der Zeit 150 1, 13-22.
Montesquieu, Charles de Sécondat de (1884). Persische Briefe. Leipzig: Reclam.
Sommer, Michael (2024): Mordsache Caesar. Die letzten Tage des Diktators. München: C.H. Beck.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Rom am 15. März des Jahres 44 vor Christus. Am Vormittag wird Gaius Julius Caesar eigentlich bei einer wichtigen Senatssitzung erwartet. Aber nach dem Aufstehen fühlt sich der römische Herrscher nicht gut. Er überlegt, ob er sich wirklich auf den Weg zum Senat machen soll.
OT 01 Sommer
Er hat dann opfern lassen, so wie man das in Rom eben machte. Vorzeichen eingeholt. Die Vorzeichen waren auch nicht gut. Seine Frau hatte in der Nacht vorher einen schrecklichen Albtraum gehabt.
SPRECHERIN
Der Historiker Michael Sommer von der Uni Oldenburg hat diesen Tag genau erforscht.
OT 02 Sommer
Also alles das sprach irgendwie dagegen, dass es so ein richtig guter Tag werden würde. Und deswegen hat er erst mal beschlossen, zuhause zu bleiben.
Musik 2: The Minotaur – 1:10 Min
SPRECHERIN
Dann aber wird Caesar von einem seiner besten Freunde besucht. Decimus Brutus. Dieser versucht ihn zu überreden, sich doch auf den Weg zu machen. Er werde im Senat erwartet und müsse unbedingt erscheinen.
OT 2.2. Sommer
Was Cesar nicht wusste in dem Moment, Decimus Brutus, was war sein Freund. Aber er war auch einer der Mitverschwörer. Das waren 60 Senatorin, die Caesar ans Leben wollten und die alle schon im Senat auf ihn mit gezückten Dolchen warteten.
SPRECHERIN
Lange hatte es eine Art Rotationsprinzip an der Spitze der römischen Republik gegeben. Das hieß, unterschiedliche Senatoren konnten abwechselnd regieren. Zu Beginn des Jahres 44 vor Christus jedoch hat sich Caesar eigenmächtig zum Alleinherrscher ausrufen lassen. Er verfügt jetzt über eine riesige Machtfülle.
OT 03 Sommer
Und spätestens da wussten die Senatoren, was die Stunde geschlagen hatte. Der Mann würde eben nicht mehr von dieser Macht lassen.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Deshalb wird Caesar den 15. März im Jahr 44 vor Christus nicht überleben.
Musik 3: Zure – 1:52 Min
SPRECHERIN
Sein Tod gilt bis heute als Musterbeispiel für einen Tyrannenmord: Die Tötung eines unrechtmäßigen Herrschers. Eines machthungrigen Herrschers, dem das Wohl des Volkes nicht an erster Stelle steht. Gleichzeitig ist der Tyrannenmord seit jeher heftig umstritten. Ist er wirklich zu rechtfertigen? Unzählige Historiker, Juristinnen, Schriftsteller aber auch Theologen oder Philosophinnen haben sich mit dem Tod von Caesar, aber auch Attentatsversuchen etwa auf Adolf Hitler beschäftigt. Davon wird später noch die Rede sein. Mit einem Tyrannenmord sind komplexe Fragen verbunden: Darf man das - einen Menschen, einen Tyrannen umbringen, um ein Volk vermeintlich zu retten? Was macht einen Tyrannen überhaupt aus? Sind vielleicht doch noch andere Wege als ein Mord denkbar? Und: Wann ist Widerstand nicht nur erlaubt, sondern wird vielleicht sogar zur Pflicht?
Musik 4: The Minotaur – siehe oben – 23 Sek
MUSIK
Zurück zum Morgen des 15. März 44 vor Christus. Decimus Brutus redet energisch auf Caesar ein und hat Erfolg. Dieser lässt sich in einer Sänfte zum Senat tragen. Caesar will sich gerade auf den Stuhl auf einem Podium setzen …
OT 04 Sommer
Und dann kam das Zeichen eines der Verschworenen, der zerrte so ein bisschen an seiner Toga wie durch Zufall. Und dann stürzten die Senatoren da auch schon auf ihn zu. Über 20 Dolchstiche haben es hier gesagt getroffen. Angeblich soll nur ein einziger tödlich gewesen sein. Aber das reichte ja also. Caesar war tot.
SPRECHERIN
Die Verschwörer wähnen sich am Ziel - Caesar ist beseitigt. Und da, wo bisher diese gigantische Machtfülle gewesen war, ist plötzlich ein Vakuum - mitten im Herzen der römischen Republik. Und das soll noch eine Rolle spielen … Doch erstmal feiern die Senatoren: Angeblich soll einer der Verschwörer damals “Sic semper tyrannis” gerufen haben, frei übersetzt “So möge es allen Tyrannen ergehen!”
MUSIK 5: Zure – siehe oben – 6 Sek
Aber was macht einen Tyrannen genau aus?
OT 05 Merkl
Es ist eine sehr herausfordernde Grenzziehung, die man da leisten muss. Begriffsfindung, die letztendlich die komplette Ideen- und Geistesgeschichte von den Anfängen prägt und begleitet.
SPRECHERIN
Alexander Merkl, ist Professor für Theologische Ethik an der Uni Hildesheim. Er hat sich intensiv mit dem Tyrannenmord aus moralischer Perspektive beschäftigt.
OT 06 Merkl
Denn natürlich nicht jeder schlechte und vor allem nicht jeder subjektiv von einzelnen Menschen als schlecht empfundene Herrscher ist per se ein Tyrann. Und auch der Schaden, das ist ein großer Begriff.
SPRECHERIN
Dennoch gibt es zentrale Merkmale einer tyrannischen Herrschaft. Formuliert hat sie der griechische Philosoph Aristoteles bereits im vierten Jahrhundert vor Christus. Also schon lange vor Cäsar.
OT 07 Merkl
Man beruft sich in der Philosophie auch in der Theologie heute sehr gerne immer noch auf Aristoteles, dass eben der Tyrann keiner Rechenschaft unterliege, schreibt Aristoteles, dass er über alle regiert und dann eben - und das scheint mir besonders wichtig - zum eigenen, ausschließlich zum eigenen Vorteil und auf der anderen Seite eben zum Schaden des Gemeinwesens. Vielleicht noch einmal weiter hilfreich, dass keiner der sozusagen Untergebenen tyrannisierten Menschen freiwillig gehorcht und ein letzter Punkt, dass ein Tyrann eben die Herrschaft ja, gewaltsam an sich gerissen hat, zumindest nicht legitim.
SPRECHERIN
Zentraler Punkt ist also, dass ein Tyrann sein Volk unterdrückt und das oft mit Gewalt. Legt man diese Kriterien auf Caesar an, so ist das Fazit von Historiker Michael Sommer eindeutig.
OT 08 Sommer
Das Volk hat unter Caesar ganz sicher nichts zu leiden gehabt. Im Gegenteil. Deren Heilserwartungen projizierten sich regelrecht auf Caesar. Die erwarteten von ihm die Lösung ihrer Probleme.
SPRECHERIN
Caesar, das betont Michael Sommer, hatte ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte, besonders für die der Soldaten aber auch von anderen Bevölkerungsgruppen.
OT 09 Sommer
Damit war eigentlich dann schon mal klar, in der Sicht der Öffentlichkeit war das dann kein legitimer Tyrannenmord, sondern das war eigentlich ein feiger Mordanschlag.
MUSIK 6: Zure – siehe oben – 20 Sek
SPRECHERIN
Wann aber ist ein Tyrannenmord legitim? Kann er je legitim sein? Im Christentum, das sich dann im Laufe der Zeit mehr und mehr ausbreitet, ist die Antwort eindeutig. “Du sollst nicht töten” heißt es im fünften Gebot. Und im neuen Testament heißt es im Römerbrief:
Musik 7: Kyrie – 22 Sek
ZITATOR
Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt.
SPRECHERIN
Wer sich einer Obrigkeit widersetzt, der stellt sich diesem Verständnis nach gegen die Ordnung Gottes. Aber diese überlieferten Texte können nicht 1 zu 1 als moralischer Kompass gesehen werden. Davon geht auch, selbst im 13. Jahrhundert – wo noch die Ständeordnung etabliert war – Thomas von Aquin aus. Der Theologe und Philosoph ist einer der ersten bedeutenden Denker, die sich systematischer mit dem Gedanken an Widerstand befassen.
OT 10 Merkl
Thomas von Aquin ist eine ganz bedeutende Autorität im Kontext der scholastischen Theologie, aber auch darüber hinaus, weil er eben sehr stark, beispielsweise denn Aristoteles rezipiert und dann eben besonders wirkmächtig für die weitere Ideengeschichte wird.
SPRECHERIN
Schlussendlich erkennt Thomas von Aquin sehr wohl an, dass es Situationen geben könnte, in denen man sich einem verbrecherischen Herrscher widersetzen darf. Ja, das kann sogar geboten sein, wenn das Leid zu groß ist. Gleichzeitig warnt er davor, zu schnell zu handeln.
OT 11 Merkl
Er sagt eben, nee, es ist nicht ganz auszuschließen, dass es moralisch vertretbar sein kann, einen Tyrannen zu töten. Wir müssen aber immer gucken. was sind die Folgen?
Musik 8: Hell Ensemble – 24 Sek
SPRECHERIN
Denn danach geht das Leben für die Untertanen weiter – und wird nicht automatisch besser. Konkret schreibt Aquin in seinem staatsphilosophischen Werk „Über die Herrschaft der Fürsten“: Das Volk soll sich nicht…
ZITATOR
„… durch Unternehmungen gegen den Tyrannen in Gefahren verwickeln, die noch weit schwerwiegender sind als die Tyrannei selbst“
SPRECHERIN
Um zu verstehen, wie zentral dieser Gedanke ist, nochmal zum Tod Caesars. Unabhängig davon, ob der Mord gerechtfertigt war, ob er also ein Tyrann war oder nicht - die große Hoffnung der Verschwörer war ja, dass nach Caesars Beseitigung Jubel ausbrechen würde und anschließend die Republik wiederhergestellt werden würde.
OT 12 Sommer
Der Plan ist aber gründlich schiefgegangen.
SPRECHERIN
Was der Historiker Michael Sommer hier andeutet, ist, dass nach Caesars Ermordung ein Bürgerkrieg ausbricht. Und in diesem allgemeinen Chaos wird die Republik nicht gerettet. Sondern sie geht endgültig unter. Das römische Kaiserreich entsteht - und damit eine dauerhafte Ein-Personen-Herrschaft, also das, was die Verschwörer ja eigentlich hatten verhindern wollen.
OT 13 Sommer
Cicero hat deswegen den Caesar-Mördern auch vorgeworfen, sie hätten zwar mit dem Mut von Männern, aber mit dem Verstand von Kindern gehandelt. Es ist eigentlich genau die richtige Analyse. Die haben sich schlicht und einfach keine Gedanken gemacht. Was machen wir, wenn es jetzt nicht so läuft, wie wir uns das vorgestellt haben? ((…))
MUSIK 9: Drunken Montage – 1:19 Min
SPRECHERIN
In den folgenden Jahrhunderten bauen zahlreiche andere Theoretiker auf der Haltung von Thomas von Aquin auf. Immanuel Kant zum Beispiel sieht im 18. Jahrhundert ein Widerstandsrecht sogar kritisch. Er befürchtete, dass dies leicht missbraucht werden könnte. Etwa, wenn einzelne es als Vorwand benutzen, um sich gegen den Staat und damit gegen die gesamte Gesellschaft aufzulehnen. Andere Staatstheoretiker sahen Menschen sehr wohl im Recht, sich Obrigkeiten zu widersetzen. Der Wegbereiter des Liberalismus, John Locke, vertrat im 17. Jahrhundert die Idee eines Gesellschaftsvertrages: Der Staat garantiert Sicherheit, dafür verpflichten sich Bürgerinnen und Bürger, dessen Regeln zu gehorchen. Wenn eine Regierung allerdings Gewalt gegen das Volk anwendet, so Locke - dann sei der Vertrag aufgekündigt und Widerstand werde möglich. Eine ganz ähnliche Richtung vertrat im 18. Jahrhundert Montesquieu.
ZITATOR
Wenn ein Fürst nicht mehr das Glück seiner Untertanen im Sinn hat, sondern sie unterdrücken und vernichten will, dann ist die Grundlage des Gehorsams dahin.
SPRECHERIN
schreibt er in den Persischen Briefen im Jahr 1721. Auch an den Theatern wird der Tyrannenmord als Motiv immer wieder aufgegriffen. Shakespeare zum Beispiel schreibt – „The Tragedy of Julius Caesar“. Dabei lässt er bewusst offen, ob der Mord gerechtfertigt war oder nicht. Friedrich Schiller hingegen bezieht eindeutig Position. Am deutlichsten wohl in „Wilhelm Tell“ Anfang des 19. Jahrhunderts. Darin geht es um den Freiheitskampf der Schweizer gegen die gewaltsame Fremdherrschaft der Habsburger. Wilhelm Tell tötet einen Landvogt und löst damit den Volksaufstand aus.
Musik 19: Overture Wilhelm Tell – 27 Sek
ZITATOR
Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,
wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden.
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben -
Der Güter höchstes dürfen wir verteidg'en
Gegen Gewalt - Wir stehn vor unser Land,
Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder!
MUSIK Ende
SPRECHERIN
Wilhelm Tell ist bis heute ein sehr populäres Werk. Besonders geliebt wurde das Stück aber von einem Mann: Adolf Hitler.
MUSIK 11: Boarded! – 56 Sek
Er sah im Freiheitskämpfer Wilhelm Tell ein Vorbild als Führerfigur. In seinem Buch “Mein Kampf” finden sich etliche Hinweise auf Schillers Drama. Wilhelm Tell wird überall im nationalsozialistischen Deutschland regelmäßig gespielt und zahlreiche Schulbücher nehmen Bezug darauf. 1941 ändert sich das.
ZITATOR
Der Führer wünscht, dass Schillers Schauspiel Wilhelm Tell nicht mehr aufgeführt wird und in der Schule nicht mehr behandelt wird.
SPRECHERIN
So verfügt es im Juni 1941 Adolf Hitler in einer streng vertraulichen Anweisung an den Reichspropagandaminister Goebbels. Hitler ist klar geworden, dass in Wilhelm Tell der Tyrannenmord glorifiziert wird. Er fürchtet, dass Schillers Stück auch als Ansporn für den Widerstand gegen ihn dienen könnte.
MUSIK Ende
SPRECHERIN
Zu diesem Zeitpunkt hatte Adolf Hitler bereits das Attentat von Georg Elser überlebt. Dieser hatte bereits zwei Jahre zuvor versucht, Hitler mit einer Bombe in Münchner Bürgerbräukeller zu töten. Während Elser als Einzelperson handelte, schließen sich damals andere zu einer Widerstandsgruppe zusammen. Kopf dieser Verschwörer ist der Wehrmachtsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Er wird 1944 versuchen, Hitler zu ermorden. Sophie von Bechtolsheim hat die Tat als Historikerin detailliert erforscht - denn sie ist Teil ihrer eigenen Familiengeschichte: Stauffenberg ist der Großvater von Sophie von Bechtolsheim. Zunächst war er allerdings kein entschiedener Gegner Adolf Hitlers und des Nationalsozialismus, sagt von Bechtolsheim. Je länger aber die Herrschaft der Nationalsozialisten dauert, desto kritischer wird Stauffenberg.
OT 15 Bechtolsheim
Das ist ihm erst wohl so richtig im Krieg klar geworden, welcher Art das Menschenbild ist und dass es eben nicht eine Entgleisung ist von Dingen, die nicht unter Kontrolle sind, sondern dass es im Grunde systemisch ist und also das verstanden hat, war ihm klar, da musst du so sagen, die Wurzel dieses Übels bekämpft werden. Und es war ihm auch klar, dass nur eine Änderung, der der Umstände möglich ist durch den Tod Hitlers.
SPRECHERIN
Stauffenberg hat sich dabei wahrscheinlich auch intensiv mit der Frage des Tyrannenmordes auseinandergesetzt. Davon geht seine Enkelin Sophie von Bechtolsheim aus.
OT 16 Bechtolsheim
Also auch da hat sich wohl mit Thomas von Aquin beschäftigt. Auf seinem auf seinem Schreibtisch lagen wohl Schriften von Thomas Aquin, das ist überliefert.
SPRECHERIN
Auch innerhalb der Widerständler wird abgewogen, ob ein Tyrannenmord im Falle Hitlers legitim ist. Dieser erfüllt zwar alle Kriterien eines Tyrannen nach Aristoteles, dazu gehören ja eine Herrschaft zum Schaden des Gemeinwesens, gewaltsame Unterdrückung und keine demokratische Legitimierung. Dennoch zögern einige.
OT 17 Bechtolsheim
Und es gab auch Leute aus dem Widerstand oder die potenziell am Widerstand hätten sich beteiligen können, die ganz klar gesagt haben, das lehnen sie aus christlicher Grundüberzeugung ab, sozusagen ein Gewaltverbrechen, einem anderen Gewaltverbrechen also, dass man einen Gewalttäter mit Gewalt sozusagen hindert. Dagegen hat sich eben ganz klar Bonhoeffer ausgesprochen, der gesagt hat, das ist legitim.
SPRECHERIN
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, den Sophie von Bechtolsheim hier anspricht, stand in Verbindung mit der Widerstandsgruppe um Stauffenberg. Bonhoeffer hat sich bereits früh mit der Frage auseinandergesetzt, wie Adolf Hitler zu stoppen sein könnte. Er plädierte in einem berühmten Zitat dafür “dem Rad in die Speichen zu fallen”. Dies schließt für Dietrich Bonhoeffer den Tyrannenmord mit ein. Die Tötung eines Menschen bedeutet nach seiner Ansicht zweifellos, Schuld auf sich zu laden. Noch größer werde die Schuld allerdings, wenn man nicht handle und nicht versuche, sich Krieg und Massenmord entgegenzustellen.
MUSIK 12: 72 Hours – 1:30 Min
Am 20. Juli 1944 entschließt sich Claus Schenk Graf von Stauffenberg die Anschlagspläne in die Tat umzusetzen. Er fliegt zu einer Besprechung mit Adolf Hitler ins Führerhauptquartier Wolfsschanze weit östlich von Berlin. Stauffenberg hat in seinem Koffer eine Bombe dabei.
OT 18 Bechtolsheim
Die Lagebesprechung fand in einer Baracke statt. Es war ein irgendwie ein windiger Holzbau. Und mein Großvater sollte diese diesen Koffer unter einem Tisch deponieren und dann sehr schnell den Raum verlassen ((…)).
SPRECHERIN
Die Verschwörer haben weit über den Tod Hitlers hinaus geplant. Das Ziel ist es, die Entmachtung der Nationalsozialistischen Führungselite geordnet voranzutreiben. Anders als es nach der Ermordung Caesars passiert ist, sollen nach dem diesem Tyrannenmord Chaos oder Bürgerkrieg vermieden werden. Es gibt aber ein Problem: Die Besprechung mit Hitler wird kurzfristig vorgezogen. Stauffenberg schafft es nicht mehr, den zweiten Zünder scharf zu machen. Und in der Eile gelingt es ihm auch nicht, den Koffer mit der Bombe direkt neben Hitler zu platzieren. Und das hat Folgen. Zwar sterben durch die heftige Explosion vier Menschen. Hitler aber überlebt.
MUSIK aus
SPRECHERIN
Der Tyrannenmord und alle Pläne zum Umsturz der Nazi-Diktatur sind damit gescheitert. Kurz nach dem Anschlag werden Stauffenberg und mehrere seiner Mitverschwörer überführt und noch in der Nacht in Berlin hingerichtet.
SPRECHERIN
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die Widerständler des 20. Juli zunächst sehr umstritten. Die Deutschen tun sich schwer, den Widerstand gegen Hitler zu würdigen. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich dann jeder und jede schmerzhafte Fragen stellen muss, vermutet Sophie von Bechtolsheim.
OT 20 Bechtolsheim
Dann landet man immer bei sehr einsamen, sehr individuellen und existenziellen Entscheidungen, die die einzelnen Leute die Einzelmenschen getroffen haben; weil sie erkannt haben, wie brutal der Nationalsozialismus, diese nationalsozialistische Herrschaft ist und so weiter und so fort. Das sind ja ganz individuelle Entscheidungen, die einen unglaublichen Mut erfordern.
SPRECHERIN
Das ist die zentrale Frage: Wäre man selbst dazu bereit gewesen? Zum Tyrannenmord oder zu kleineren Akten des Widerstands? Es braucht Jahre, bis sich die Perspektive in weiten Teilen der Gesellschaft ändert. Der SPD-Politiker und Mitverfasser des Grundgesetzes, Carlo Schmid, formuliert beispielsweise im Jahr 1958 bei einem Gedenkakt zum 20. Juli einen regelrechten Appell an die Deutschen:
OT 21 Schmid
Der Tyrannenmord ist kein Mord im Sinn der göttlichen Gebote und das Sittenlehre weder der Dekalog noch das Sittengesetz verbieten uns, den zu vernichten, der uns mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben bedroht.
SPRECHERIN
Doch die meisten verbrecherischen Regime sind heute so angelegt, dass die Tötung eines Herrschers nichts am System ändert, sondern eine andere Person an der Spitze nachfolgt. Die Alternative zu Tyrannenmorden kann daher nur die Durchsetzung des Rechts, vor allem der Menschenrechte sein, davon ist Christoph Safferling überzeugt: Er ist Professor für Völkerrecht an der Uni Erlangen-Nürnberg. Sollte dies innerhalb eines Staates nicht mehr möglich sein, müsse dies auf einer internationalen Ebene geschehen. Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag sei da ein Anfang.
OT 22 Safferling
Da müssen auf jeden Fall die Strukturen dahingehend verbessert werden. Und dass die Welt deswegen sicherer gemacht wird, dass man eben beispielsweise ein umfassendes Strafjustizsystem er etabliert mit einem internationalen Strafgerichtshof, der entsprechend die Power hat, das dann auch durchzusetzen, bevor man hier Tötungen dann legitimiert. Denn wenn man damit anfängt, dann fürchte ich auch, äh, dann ja, ist ja ein gewisser Dammbruch zu befürchten und die Kriterien zwischen Recht und Unrecht geraten in einer Art und Weise ins Schwimmen, das kann ich nicht unterstützen.
Musik 13: Hell Ensemble – siehe oben – 49 sek
SPRECHERIN
Wenn Tyrannen und ihre Unterstützer nicht getötet, sondern festgenommen und vor Gericht gestellt werden, kann das große Vorteile haben: So zum Beispiel 2001 Slobodan Milosevic in Jugoslawien oder 2003 Saddam Hussein im Irak. Öffentliche Prozesse helfen bei einer geordneten Aufarbeitung und schaffen Transparenz. Auch wenn der juristische Weg komplizierter und teuer ist und dazu noch lange dauert - die Wirkung ist sehr wahrscheinlich nachhaltiger als ein Tyrannenmord. So legitim dieser im Einzelfall auch sein mag.