
Henry David Thoreau - Rebell und Öko-Pionier
Radiowissen
Intro
In diesem Kapitel wird das Leben von Henry David Thoreau und seine Ideen über zivilen Ungehorsam und ökologische Verantwortung beleuchtet. Zudem wird ein historisches Beispiel aus dem Vietnamkrieg vorgestellt, das zeigt, wie Thoreaus Philosophie als Inspiration für mutigen Protest diente.
Anpassung oder Aufbegehren? Zerstörung der Natur oder verantwortungsvoller Umgang mit ihr? Die Antworten des US-amerikanische Dichters Henry David Thoreau, vor über 150 Jahren geschrieben, sind von beeindruckender Aktualität. (BR 2018)
Credits
Autor dieser Folge: Michael Reitz
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß,Thomas Lettow
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
- Prof. Dr. Dieter Schulz, Anglistik an der Universität Heidelberg;
- Frank Schäfer, Thoreau-Biograf, Braunschweig;
- US-amerikanischer Vietnam-Soldat
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Washington, D.C, am 23. April 1971. Auf den Stufen des Capitols, dem Sitz des US-Kongresses, haben sich circa 1.000 Soldaten und Offiziere versammelt. Sie demonstrieren für das Ende des Krieges in Vietnam. Ein Krieg, an dem sie selbst teilgenommen haben. Höhepunkt des Protests ist eine Aktion, die wohl einmalig ist in der Geschichte:
MUSIK ENDE
O-TON US-AMERIKANISCHER VIETNAM-SOLDAT
I got those medals and people had to die for …
ERZÄHLERIN
„Menschen mussten sterben, damit ich diesen Orden bekommen konnte“, ruft ein junger Mann ins Mikrophon. Daraufhin reißt er sich die Rang- und Divisionsabzeichen von der Uniform und wirft sie zusammen mit seiner Tapferkeitsmedaille in einen Müllcontainer (O-TON ENDE). Hunderte seiner Kameraden tun es ebenfalls. Es ist ein Akt des zivilen Ungehorsams – ein Begriff, der auf den Philosophen, Pionier der ökologischen Bewegung und Schriftsteller Henry David Thoreau zurückgeht. In seiner Schrift „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ schrieb er im Jahr 1849:
ZITATOR
Wenn tausend Menschen dieses Jahr ihre Steuern nicht bezahlten, so wäre das keine gewaltsame und blutige Maßnahme – was aber wäre, wenn sie bezahlten und damit den Staat in die Lage versetzten, Gewalt anzuwenden und unschuldiges Blut zu vergießen?
MUSIK
ERZÄHLERIN
Henry David Thoreau wird am 12. Juli 1817 als Sohn eines Bleistiftfabrikanten in Concord im US-Bundesstaat Massachusetts geboren. Damals ein idyllischer Ort in ländlicher Gegend. Im Unterschied zu vielen amerikanischen Familien ist Henrys Elternhaus in Fragen der Religion tolerant. Es gibt keinen vorgeschriebenen Glauben, den er und seine drei Geschwister streng befolgen müssen – ein Umstand, der für sein späteres Leben bestimmend sein wird. Nach der regulären Schulzeit bekommt er ein Stipendium für die renommierte Harvard-Universität. Zwar fällt er beim Aufnahmetest beinahe durch, aber in den folgenden Jahren wird er zu einem wahren Bücherwurm und universal gebildeten Menschen, der Ovid, Homer und Goethe im Original lesen kann. Doch schon früh geht ihm der akademische Betrieb gegen den Strich (MUSIK ENDE). Der Heidelberger Anglistik-Professor Dieter Schulz gilt als Thoreau-Experte. Er beschreibt dessen Einstellung so:
O-TON DIETER SCHULZ
Bücher bieten keine Rezepte etwa für die Lebensführung oder irgendwelche Wahrheiten, irgendwelche Weisheiten, die unerschütterlich, nur weil sie gedruckt sind, dann zu akzeptieren wären. Von daher also würde ich eher sagen, es ist ein zwiespältiges Verhältnis zu Büchern. Er war ein – wie ein Kritiker das genannt hat – ein Chain Reader, also ein Kettenleser einerseits. Andererseits hat er aber nichts, was er da gelesen hat, für bare Münze genommen, sondern alles einem Realitätstest unterworfen, in dem Sinne, dass er sich fragte: Stimmt das mit meiner eigenen Erfahrung überein?
MUSIK
ERZÄHLERIN
Der junge Mann ist auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Nach einer weltanschaulichen Orientierung, die er durch ein enormes Lektürepensum zu finden hofft (MUSIK: priv. CD „Ride Home“ aus „Moonlight“ [00‘25‘‘]). Im Frühjahr 1837 findet er in der Universitätsbibliothek ein Buch, das soeben erschienen ist und dessen Autor ebenfalls in Concord lebt: „Natur“ von Ralph Waldo Emerson, dem Begründer des sogenannten „Transzendentalismus'“. Hierbei handelt es sich um eine Mischung aus Spiritualität und Philosophie, wie Dieter Schulz erläutert:
MUSIK ENDE
O-TON DIETER SCHULZ
Was die Transzendentalisten immer wieder ins Feld geführt haben, war, dass die Dinge, so wie sie sind, nicht der Weisheit letzter Schluss sein müssen, sondern dass es gewisse Prinzipien gibt, gewisse Ideale, die über die Wirklichkeit hinausgehen. Die pragmatische Seite kommt dann dadurch herein, dass man sagt, Ideale für sich, schön und gut – aber sie müssen dem Test des Lebensvollzugs unterworfen werden.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Das Göttliche, so Ralph Waldo Emerson und die Transzendalisten, ist nichts Äußeres, sondern liegt im Menschen selbst. Um es freizulegen, muss der Einzelne die Natur als Quelle der göttlichen Offenbarung erfahren und im Einklang mir ihr leben. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Dasein nur in einem abgeschotteten Wolkenkuckucksheim gelebt werden soll: Die tiefen Erfahrungen, die der Mensch in der Natur machen kann, sollen in die Wirklichkeit getragen werden. Für Henry David Thoreau wird die Lektüre zu einem Erweckungserlebnis (MUSIK ENDE), wie sein Biograph, der Braunschweiger Schriftsteller Frank Schäfer, beschreibt:
O-TON FRANK SCHÄFER
Der Mensch in der Masse, der erschreckt ihn, weil er sieht – was passiert mit den Menschen? Die verlieren im Grunde ihre Autonomie, die verlieren ihre Einzigartigkeit. Die sind eben Teil der Masse. Und das muss ihn irgendwie sehr beunruhigt haben, dieses Gefühl. Und auch das lässt sich im Grunde ableiten aus dem Transzendentalismus: In jedem steckt sozusagen ein göttlicher Funke. Und den muss jeder für sich im Austausch mit sich selbst finden. Und das geht eben nicht als Teil der Masse. Das geht nur in Vereinzelung, das geht auch nur im Austausch mit der Natur, laut Thoreau. Und es geht auch nur eigentlich allein.
ERZÄHLERIN
Als Henry David Thoreau Emerson kennenlernt, entwickelt sich sehr bald eine tiefe Freundschaft. Der vierzehn Jahre ältere Philosoph wird nicht nur zu seinem geistigen Ziehvater. Er weckt auch einen Berufswunsch in dem jungen Mann, wie Dieter Schulz erzählt:
O-TON DIETER SCHULZ
Nach der Begegnung mit Emerson wird das eigentlich sein Traum: sich als freier Schriftsteller durchzuschlagen. Und alles andere, was er sonst noch gemacht hat – also als Landvermesser arbeiten, dann hat er ja ausgeholfen in der Bleistiftfabrik seines Vaters, er hat den Leuten Bäume gepflanzt, er hat mitgeholfen, Sümpfe trockenzulegen und alles Mögliche –, das waren wirklich mehr Gelegenheitsarbeiten. Das sieht man dann auch später an seinem Tagesablauf. Ein paar Stunden draußen rumlaufen, Notizen machen, dann schreiben, zwischendurch natürlich auch lesen.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Doch zunächst muss Henry David Thoreau nach dem Universitätsabschluss seinen Lebensunterhalt verdienen. Er wird Lehrer an einer allgemeinen Schule. Dabei verfolgt er Erziehungsideale, die auf die Transzendentalisten zurückgehen. Und die nicht unbedingt im Einklang mit dem Lehrplan stehen. Als er sich weigert, die Prügelstrafe anzuwenden, fliegt er von der Schule. Daraufhin gründet er mit seinem Bruder eine eigene private Lehranstalt. Was dort im Mittelpunkt steht, erläutert Frank Schäfer:
MUSIK ENDE
O-TON FRANK SCHÄFER
Nicht nur theoretische Kenntnisse vermitteln, alte Sprachen pauken und so was, sondern tatsächlich auch praktische Fähigkeiten vermitteln. Das Ganze anschaulich machen. Also das sind alles Sachen, die da das erste Mal eigentlich auftauchen, und die im Grunde sich aber tatsächlich herleiten aus diesem Glauben: Man geht in die Natur und kann da eben sehen, was Gott im Inneren zusammenhält.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Als sein Bruder an Wundstarrkrampf stirbt, schließt Henry die Schule. Er wohnt nach wie vor in seinem Elternhaus, hilft dem Vater in seiner kleinen Fabrik und eignet sich Kenntnisse in der Landvermessung an. Er ist ein praktischer Mensch, ein Intellektueller, der mit Hammer, Spaten und Säge umgehen kann. Dabei ist er kein einfacher Zeitgenosse. Oft brüskiert er seine Mitmenschen damit, dass er sagt, was er denkt. Für Frauen oder gar das Heiraten interessiert er sich wenig, Henry ist ein in sich gekehrter Mensch (MUSIK: priv. CD „Ride Home“ aus „Moonlight“ [01‘00‘‘]). Vor diesem Hintergrund ist auch ein Lebensabschnitt zu sehen, der ihn heute zur Galionsfigur der ökologischen Bewegung, vor allem der Landkommunen und der Hippiekultur in den USA werden lässt. Er will ein paar Jahre allein in einem Wald von seiner eigenen Hände Arbeit leben. In sein Tagebuch notiert er:
ZITATOR
Es ist jetzt Zeit, dass ich anfange zu leben. Ich möchte so sein wie ihr meine Wälder, und werde nicht eher ruhen, bis ich eure Unschuld erlangt habe. Ich möchte bald fortgehen und am See leben, wo ich nur den Wind im Schilf flüstern höre. Das wird ein Erfolg sein, sofern es mir gelingt, mich selbst zurückzulassen.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Doch worin besteht Thoreaus Überdruss, seine Zivilisationskritik? In erster Linie darin, dass der Mensch der Moderne ein aufgespaltenes Wesen ist. Es verliert seine Sinnlichkeit, sein Empfinden dafür, dass er nur Teil der Natur und nicht ihr Beherrscher ist. Früh kritisiert Thoreau damit ein Leitbild, wie es heute gang und gäbe ist: das des Machers, des ökonomischen Menschen, der alles inklusive der Natur als Ressource sieht, die es auszubeuten gilt. Damit dies überhaupt möglich ist, muss dieser Menschentyp sich zunächst selbst als Produktionsmittel sehen, das nur noch auf der praktisch-technischen Ebene funktioniert. Henry David Thoreau stellt dem das Bild des vollständigen Menschen entgegen, wie es sein intellektueller Ziehvater Ralph Waldo Emerson formuliert hatte:
ZITATOR
Dieser Mensch ist weder Bauer noch Professor, noch Ingenieur – er ist all das zugleich. Dieser Mensch ist Priester und Gelehrter, Politiker, Unternehmer und Soldat.
ERZÄHLERIN
Am 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, ist es dann soweit. Ralph Waldo Emerson hatte unweit des Wohnortes Thoreaus am Ufer des Walden-Sees ein kleines Stück Wald gekauft, um es vor der Abholzung zu bewahren. Er erlaubt seinem Freund und Schüler, dort eine kleine Hütte zu errichten. Und der beginnt sofort mit der Arbeit. Er legt ein zwei Morgen großes Feld an, auf dem er Rüben, Karotten, Bohnen, Kartoffeln und Mais anbaut und schafft mit einem Pferdekarren seine Habseligkeiten in die Einöde. Bei aller Verklärung, die dieser Umzug in der Geschichte der ökologischen Bewegung erfahren hat, darf man sich das allerdings nicht so vorstellen, als habe Henry David Thoreau in der Wildnis fernab jeder Zivilisation gelebt. Gerade mal ein paar Kilometer ist die Stadt Concord entfernt, das Einsiedler- und Aussteigerleben findet also in einem abgesicherten Modus statt. Für seinen Biographen Frank Schäfer ist das jedoch kein Widerspruch:
O-TON FRANK SCHÄFER
Deswegen konnte er diese Natur auch in einer Weise feiern, wie das bei einem Urwald gar nicht möglich gewesen wäre. Dieses Menschenfeindliche war da eben schon so etwas an den Rand gedrängt. Und deswegen hat es tatsächlich für ihn was Liebliches, ja was Mythisches. Und das muss ihn einfach schon früh unglaublich beeindruckt haben.
ERZÄHLERIN
Seine Motivation beschreibt Henry David Thoreau in seinem Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“, das 1854 erscheint. Es ist heute ein Klassiker des verantwortungsvollen Umgangs mit der Natur:
MUSIK
ZITATOR
Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.
ERZÄHLERIN
Nicht nur in der Natur leben, sondern mit ihr – Henry David Thoreau ist es ernst mit seinem Experiment, das zwei Jahre dauern wird (MUSIK ENDE). Er lebt von den Früchten, die er selbst zieht, von Waldbeeren und Pilzen, verkauft das, was er nicht zum Überleben braucht, auf dem Markt. Dabei macht er gleich im ersten Jahr eine interessante Entdeckung: das angelegte Gemüsefeld ist für seine Bedürfnisse viel zu groß. Der zivilisierte Mensch neigt offenbar zu Überproduktion und Naturausbeutung (MUSIK: priv. CD „Main Theme“ aus „The Seventh Fire“ [00‘30‘‘]). Henry David Thoreau verkleinert sein Feld und kommt zu dem Schluss:
ZITATOR
Dass, wenn jemand einfach leben und nur das verzehren will, was er selber baut, nicht mehr braucht, als er isst, und die Ernte nicht für eine unzureichende Menge kostspieligerer und überflüssigerer Dinge eintauscht, er nur ein paar Quadratmeter Grund zu bepflanzen braucht.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Wenn Thoreau trotzdem einmal Geld braucht, verdingt er sich als Tagelöhner. Dieses Leben als Selbstversorger in relativer Abgeschiedenheit, unabhängig von äußeren Umständen sieht er dabei als Vorbereitung für die Art von Existenz, die ihm immer vorschwebte: die eines Schriftstellers und Denkers, der seine Ideen nicht isoliert am Schreibtisch entwirft, sondern aus der Erfahrung eines tätigen Lebens heraus. Es ist ein individueller Reifungsprozess, den Thoreau sucht und findet. Die Langzeitwirkung dieser Einstellung erläutert Frank Schäfer:
O-TON FRANK SCHÄFER
Das ist ja dann auch ein Moment, der bei den Hippies dann später aufgenommen wird, dass man nicht unbedingt die politischen Strukturen verändern muss, sondern die persönlichen Strukturen verändern muss und dass die Folge daraus ist eine politische Veränderung.
ERZÄHLERIN
Henry David Thoreau selbst schreibt dazu:
ZITATOR
Wenn jemand vertrauensvoll in die Richtung seiner Träume vorwärtsschreitet und danach strebt, das Leben, das er sich einbildete, zu leben, so wird er Erfolge haben, von denen er sich in gewöhnlichen Stunden nichts träumen ließe. Er wird mancherlei hinter sich lassen. Neue, allgemeine und freiere Gesetze werden sich um ihn und in ihm bilden.
ERZÄHLERIN
Während heutige Menschen zur Neuorientierung im Leben ein Sabbatical machen oder für ein paar Wochen in ein Kloster gehen, sah Thoreau die Natur als Lehrmeisterin und Inspirationsquelle. Doch warum brach er sein Experiment nach zwei Jahren wieder ab? Frank Schäfer versucht eine Antwort:
O-TON FRANK SCHÄFER
Er wusste, was passiert, und er hätte im Grunde sagen können, wie das dritte Jahr wird. Er glaubte, jetzt eigentlich alles erlebt zu haben und wollte eben tatsächlich noch mal was anderes machen, und ist deshalb von da aus wieder weggezogen – im Grunde dann auch erst begonnen, als professioneller Autor zu arbeiten. Also, hat dann Vortragstätigkeiten angenommen und so was. Das ist eigentlich im Grunde erst nach dieser Walden-Erfahrung passiert.
ERZÄHLERIN
Durch Vermittlung Ralph Waldo Emersons, in dessen Haus er bald lebt, kann Henry David Thoreau immer mehr veröffentlichen. Doch was ihn nun stark bewegt ist die Frage, wo der Nutzen einer persönlichen Entwicklung liegt, wenn die keine Rückwirkungen auf andere Menschen, auf die Gesellschaft und den Staat hat. In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die politische Situation in den Vereinigten Staaten angespannt, das Land ist uneins. Von 1846 bis 48 haben die USA einen in der Bevölkerung höchst umstrittenen Angriffs- und Eroberungskrieg gegen Mexiko geführt, der ihr Territorium bis an den Pazifik ausdehnt. Hinzu kommt die Sklaverei, die laut einem Gesetz aus dem Jahr 1820 nur südlich des 36. Breitengrads erlaubt ist. De facto ist das eine Spaltung des Landes in zwei Rechtsbereiche. Thoreau fragt sich nun: Kann ich es mit meinem Gewissen vereinbaren, in einem Staat Steuern zu zahlen, der grundlos einen Krieg anfängt? Und der darüber hinaus ein System mitfinanziert, das schwarze Menschen wie Nutztiere behandelt? Seine Antwort ist pragmatisch: Er zahlt keine Steuern mehr. Seine Argumentation, so Dieter Schulz:
O-TON DIETER SCHULZ
Wenn möglichst viele auf ihr Gewissen hören – das ist zunächst eine individuelle Instanz, die nur das Individuum betrifft. Aber da wir alle im Grunde an ein und dasselbe höhere Prinzip angeschlossen sind, daran partizipieren, wird dadurch keine Anarchie entstehen, sondern auch kollektives Handeln im Sinne sozialer Transformation.
ERZÄHLERIN
Zur Eintreibung der Steuern landet Henry David Thoreau im Gefängnis. Obwohl er nach kurzer Zeit wieder frei kommt, wird diese Erfahrung zur Basis seiner wohl berühmtesten Schrift. Sie erscheint 1849 und trägt den schlichten Titel „Civil disobedience“, zu Deutsch „Ziviler Ungehorsam“. Darin heißt es:
ZITATOR
Unter einer Regierung, die irgendjemanden unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen gerechten Menschen. Der entflohene Sklave und der Indianer mit seinen Anklagen gegen das Unrecht, das man seiner Rasse zufügt: nur hier sollen sie ihn finden, im Gefängnis. Es ist das einzige Haus in einem Sklavenstaat, das ein freier Mann in Ehren bewohnen kann.
MUSIK:
ERZÄHLERIN
„Civil disobedience“ ist eine Kampfschrift, die im 20. Jahrhundert von Bürgerrechtlern wie Martin Luther King oder Nelson Mandela ihren Anhängern zur Lektüre empfohlen wird, Mahatma Gandhi verteilte sie während des indischen Unabhängigkeitskampfes an seine Mitstreiter. Ihre Kernaussage: Der Einzelne hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht gegen einen Unrechtsstaat Widerstand zu leisten.
MUSIK:
ZITATOR
Tausende, die im Prinzip gegen Krieg und Sklaverei sind, und die doch praktisch nichts unternehmen, um sie zu beseitigen. Die ruhig sitzen bleiben, die Hände in den Taschen. Sie zögern, sie bedauern, und manchmal unterschreiben sie auch Bittschriften, aber sie tun nichts ernsthaft und wirkungsvoll.
MUSIK ENDE
O-TON DIETER SCHULZ
Das ist ja wohl ein Kerngedanke seines einflussreichsten Essays Civil Disobedience. Der Gedanke, dass die entscheidende Instanz für individuelles und, davon abgeleitet, dann auch kollektives Handeln das Gewissen des Einzelnen ist. Und was er dann selber vorexerziert, indem er sich weigert, Steuern zu entrichten an einen Staat, der das Sklaverei-System stützt, ist eben diese Instanz des Gewissens, die sagt, das ist unmoralisch, was da passiert, da mache ich nicht mit. Und daraus speist sich ja dann auch der Gestus des Protests.
ERZÄHLERIN
Aber es bleibt nicht bei der Geste. Um flüchtende Sklaven zu unterstützen, entwickeln Bürger der Nordstaaten – unter ihnen ist auch Thoreau – die „Underground Railroad“. Das sind geheime und sichere Fluchtwege aus dem Süden nach Neuengland oder Kanada. Doch im Jahr 1850 einigen sich Nord- und Südstaaten auf das „Gesetz über flüchtige Sklaven“. Es verpflichtet die Nordstaaten zur Herausgabe von Flüchtlingen, wenn dies von Südstaatlern beantragt wird. Daraufhin kommt es in Massachusetts und anderen nördlichen Regionen zu regelrechten Aufständen. Gefängnisse, in denen schwarze Sklaven interniert sind, um in den Süden abgeschoben zu werden, gehen mehr als einmal in Flammen auf. Als bei einer dieser Aktionen ein Marshall der Nordstaaten stirbt, rechtfertigt Henry David Thoreau dies als eine bedauerliche aber meist unumgängliche Begleiterscheinung eines Kampfes gegen das Unrecht. Damit hat er eine Frage aufgeworfen, die bis heute immer wieder neu beantwortet werden muss: Ab wann sind Widerstand und Gewalt gegen die Obrigkeit erlaubt? Frank Schäfer erläutert Thoreaus Position:
O-TON FRANK SCHÄFER
Der Punkt dabei ist, dass man nicht grundsätzlich sagen kann, Gewalt ist richtig. Man muss jeweils immer diese Abwägung machen. Ist dieses moralische Unrecht, das da gerade passiert ,so schlimm, dass es diese andere Gewalt rechtfertigt?
ERZÄHLERIN
Henry David Thoreau gilt heute zu Recht vielen Menschen als Vorbild für Zivilcourage, bürgerschaftliches Engagement, ökologisch unbedenkliches Leben und Wirtschaften. Seine Kompromisslosigkeit im Denken und Handeln war beispielhaft. Ebenso sein Prinzip, sich niemals einer dogmatischen Religion oder politischen Ideologie anzuschließen. Im Idealfall, so Thoreau, käme man ohne Regierung aus. Doch wie dieses Denken missbraucht werden kann, beschreibt der Heidelberger Anglistik-Professor und Thoreau-Forscher Dieter Schulz anhand eines aktuellen Beispiels aus der amerikanischen Politik:
O-TON DIETER SCHULZ
Die Kehrseite der Medaille ist die – ja – libertäre Bewegung, die ja in Amerika auch sehr stark ausgebreitet ist und sich zum Teil auch auf jemanden wie Thoreau beruft – weg mit jeder Regierung, weg mit jeder Regierung. Und das ist ja so ein Teil des Erfolgsrezepts von Trump gewesen, dass er sagt, also das Establishment ist durch und durch korrupt, und man muss irgendwie den Stall Washington – den muss man ausmisten.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Henry David Thoreau war zeitlebens von schwacher Gesundheit, erblich bedingt litt er an einer Schwäche der Atemwege. Dass er früh sterben könnte, hat er wohl geahnt, was vielleicht einer der Gründe dafür gewesen ist, niemals zu heiraten und eine Familie zu gründen. Ausgerechnet dieser gesund lebende Naturmensch stirbt am 6. Mai 1862 in seiner Heimatstadt Concord im Alter von gerade einmal 45 Jahren.